Ziele erreichen. Ist "Aufgeben" doch eine Option?  

Das Motto, um hochgesteckte Ziele zu erreichen, lautet für gewöhnlich: „Gib niemals auf!“ Dies mag auf den ersten Blick auch logisch klingen. Wer aufgibt, hat schon verloren. Doch in Ausnahmefällen kann man mit einem Abbruch auch etwas gewinnen!


Grundsätzlich ist es sinnvoll, „längerfristig“ an seinen Zielen zu arbeiten, aus Rückschlägen zu lernen, neue Versuche zu starten und alternative Lösungswege auszuprobieren. Denn wer beim ersten Widerstand abbricht, wird seine Ziele nie erreichen! James Clear, der bekannte Gewohnheitstrainer, stellt fest: „Erfolg ist das Ergebnis täglicher Gewohnheiten, nicht einmaliger Veränderungen.“ 

 

Doch in Einzelfällen kann sich das starre Festhalten an Zielen auch nachteilig auswirken. Zum Beispiel, wenn lediglich deswegen weiter gemacht wird, weil man vor sich und anderen ein Scheitern nicht eingestehen möchte, obwohl man sich heute, nach langer und intensiver Beschäftigung mit diesem Ziel sicher ist, dass eine Neuausrichtung tatsächlich besser wäre. Die Entscheidung aufzuhören, wäre in diesem Fall jedoch nicht sprunghaft aus einer vorübergehenden Laune heraus getroffen worden, sondern hätte sich aufgrund der langen Erfahrung immer wieder deutlich abgezeichnet. Wenn zudem durch die Beschäftigung mit diesem Ziel seit langer Zeit keine Leichtigkeit, kein Flow und keine Zufriedenheit mehr einhergeht, kann ein Abbruch sinnvoll sein.

 

Zu schnelles Aufgeben wird nicht belohnt, aber ein extrem starres und langfristiges Festhalten an einmal getroffenen Entscheidungen kann ebenfalls negative Auswirkungen haben. Der Philosoph Seneca schrieb dazu: 


„Auch der Starrsinn ist naturgemäß mit Not und Plage verbunden, da ihm das Schicksal oftmals etwas abnötigt, aber der Wankelmut ist viel drückender, da er sich nicht in festen Grenzen hält.“ (Seneca 2017: 82).

 

Wissenschaftlich wurde dieses Thema in den sogenannten „Konsistenztheorien“ und den „versunkenen Kosten“ erfasst. Demnach wird häufig der Fehler gemacht, die Vergangenheit wie das bereits investierte Geld, die Zeit, der Aufwand usw., als Begründung dafür zu nutzen, um weiter zu machen, obwohl sich ein weiter so nach heutigem Stand nicht mehr lohnt und ein Abbruch sinnvoll wäre (vgl. Felser  2007: 286-287 sowie Dobelli 2011: 21-23). So liegt es z. B. nahe, weiter viel Geld in ein bisher gescheitertes Projekt zu stecken, weil die letzten 10 Jahre doch schon so viel investiert wurde. Man könnte sich denken: „Das wäre dann alles umsonst gewesen“. Wenn dieser Prozess aber auf absehbare Zeit nicht zum Ende kommt, verpulvert man weiter sein gutes Geld anstatt jetzt aufzuhören, um die Verluste zumindest nicht weiter zu erhöhen. 

 

Vor dem sozialen Umfeld und sich selbst möchte man oftmals „das Gesicht nicht verlieren“ und bei einer einmal getroffenen Entscheidung bleiben. Doch wenn man sich sicher ist, etwas nicht mehr zu wollen und die Bemühungen dahingehend einstellt, kann wiederum viel positive Energie für die persönliche Weiterentwicklung und Umorientierung freigesetzt werden. 


Zusammengefasst kann es also durchaus Sinn machen, bestimmte Ziele nicht mehr weiter zu verfolgen und dafür eine passendere Richtung einzuschlagen. Die Wahrscheinlichkeit, die gesamte Lebensrichtung sowie die dazugehörigen Lebensziele zu ändern, kann jedoch dadurch minimiert werden, dass möglichst frühzeitig den individuellen Faszinationen gefolgt wird, aus denen dann entsprechende Ziele abgeleitet werden. Wer den eigenen Neigungen und Interessen folgt, hat eine höhere intrinsische Motivation und tut sich leichter die gesetzten Ziele konsequent weiterzuverfolgen. Die Beschäftigung mit den Themen, die einen wirklich interessieren, bewirkt zudem eine gesteigerte Zufriedenheit und Selbstbestimmung. Es stellt sich das Gefühl ein, produktiv zu sein.

 

Ein gewisses Maß an Flexibilität ist natürlich nötig, um die Unterziele regelmäßig auf ihren Nutzen zu überprüfen und bei Bedarf anzupassen. Zum Beispiel könnte ein 28-jähriger Fußballer erkennen, dass er die ersehnte Profikarriere aufgrund seines Alters und dem körperlichen Verschleiß nicht mehr erreichen wird. Ein „weiter so“ würde nichts bringen und hätte sogar negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Die Einstellung „Ich habe doch schon so viel Energie reingesteckt. Daher muss ich es weiter versuchen“, ist hier eben nicht sinnvoll! Eine alternative Einstellung wäre: Er hat es versucht und kann sich nichts vorwerfen. Und selbst wenn. Die Vergangenheit ist vorbei! Das sind die Fakten. Doch jetzt ist die Zeit! Deswegen ist er zufrieden mit sich und kann sich davon lösen. Er orientiert sich um und wird Trainer in seinem früheren Verein. Seiner "Faszination für Fußball", der er seit seiner Kindheit gefolgt ist, bleibt er damit weiter treu. 

 

Text: ©David R. Hielscher 2021, 2023.

Literatur:

Clear, James. 2020. Die 1% Methode. Minimale Veränderung, maximale Wirkung. 17. Auflage. Wilhelm Goldmann Verlag, München. 

Dobelli, Rolf. 2011. Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler die Sie besser anderen überlassen. Carl Hanser Verlag München.

Felser, Georg. 2007. Werbe- und Konsumentenpsychologie. 3. Auflage: 2007. Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2007. 

Seneca. Glück und Schicksal. Philosophische Betrachtungen. 2009, 2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart.